Sie waren etwas zu früh in der Bar eingetroffen und sahen sich in den Räumen um. Bei der Cream-Bar handelte sich um eine etwas größere Location, so dass sie trotz des üblicherweise sehr beliebten Freitag abends noch die Auswahl hatten, an welchen Tisch sie sich setzen wollten.
Maye hatte sich für eine Bluejeans und eine weiße Bluse entschieden, die sie älter aussehen ließ als sie war. Zwar hatte sie vor einiger Zeit ihren achtzehnten Geburtstag gefeiert und durfte somit offiziell alkoholische Getränke bestellen, aber ihrer Meinung nach schadete es auch nichts, zumindest noch ein klein wenig älter zu wirken. Der Zeitpunkt, zu dem sie im Gegenteil versuchen würde, wieder jünger auszusehen als zu sein, würde noch früh genug kommen.
Nachdem sie sich für einen Tisch am Fenster entschieden hatten, bestellte Henry ein Bier für sich und einen Cocktail für Maye. Dann betrachtete er die Straße, auf der die Pfützen das Licht der an den umstehenden Häusern angebrachten Leuchtreklamen spiegelten und in die stetig Regentropfen fielen. Er hatte dieses nasse Wetter so satt und sehnte sich den Sommer oder zumindest den Frühling oder den Winter mit seinen eisigen Temperaturen aber dem weniger nassen Frost herbei. Flüchtig warf er einen Blick auf Maye, die trotz des Regenschirms wegen des starken Windes nass geworden war, und strich ihr grinsend eine Haarsträhne hinter das Ohr. „Schade, dass Du eine Jacke mitgenommen hast – ich kann mir Dich in dieser weißen Bluse bei Regen großartig vorstellen!“, sagte er, ohne seine Stimme sonderlich abzusenken. Maye konterte mit einem koketten Lächeln und der Ankündigung, dass sie auf dem Rückweg eventuell die Jacke etwas geöffnet lassen werde, wenn er ihr dafür verspräche, sie ausreichend zu wärmen. Dabei ließ sie ihre Hand vielversprechend über Henrys Oberschenkel gleiten, zog sie dann aber zurück, als Sven und Micha die Bar betraten und zeitgleich das Bier und der Cocktail serviert wurden.
Die drei Männer unterhielten sich über ihre Arbeit, von der sie alle drei jeweils nicht begeistert zu sein schienen, während Mayes Gedanken langsam abschweiften, da sie selbst nichts zu dem Gespräch beizutragen hatte. Ihr stand noch mindestens ein Jahr in der Schule bevor, bevor sie ihr Abitur machen konnte. Sie war keine sonderlich schlechte Schülerin, allerdings tat sie zu wenig für die Schule und das Lernen fiel ihr schwer. Wenn sie im Unterricht anwesend war und aufpasste, konnte sie ihm einigermaßen folgen, aber sobald sie nachlässig wurde, schaffte sie es wenn überhaupt nur unter großer Mühe, das Versäumte nachzuholen. Maye war sich absolut sicher, dass ein Studium für sie nicht in Frage käme, wenn sie die Schule abgeschlossen hätte, da ihr das eigenverantwortliche Erarbeiten von Sachverhalten nicht lag. Sie konnte sich eher vorstellen, eine Ausbildung zu absolvieren, bei der man keine Bürotätigkeit verrichten müsste und sich darüber hinaus möglichst auch nicht sonderlich schmutzig machte. Konkretere Wünsche hatte sie nicht, aber es sollten später auch Reisen zu ihrem Beruf gehören oder die Arbeit mit Tieren, wenn auch auf keinen Fall mit kranken Tieren.
Als das Gespräch sich der Freizeitbeschäftigung zuwandte, begann sie, sich interessiert an Henrys Schulter gelehnt zu beteiligen. Zu aktuellen Kinofilmen oder einer angesagten Band hatte sie eine Meinung und konnte mitreden. Die Männer interessierte es vermutlich weniger, welcher Schauspieler welche Kleidung wann in welchem Film getragen hatte und ob er darin gut oder miserabel aussah, aber auch Action- und Kampfszenen wurden zerpflückt, analysiert und kommentiert, bis Micha sogar plötzlich von seinem Stuhl aufsprang, einen Sprung zu einem doppelten Salto andeutete und dann zumindest eine Flugrolle zwischen den Kneipentischen absolvierte. Aufgrund des dazugehörigen Aufschreis wandten sich ihnen viele Köpfe zu, einige der Leute an den direkten Nachbartischen johlten und applaudierten, es wurde gelacht, Micha verbeugte sich kurz grinsend und setzte sich dann wieder. Bestellung um Bestellung wurde aufgegeben, ein Bier nach dem anderen geleert und Henry spendierte Maye noch zwei weitere Cocktails, bis sie irgendwann dankend ablehnte. Maye genoss das Gefühl des Beschwipstseins, hasste es aber, richtig betrunken zu sein und sogar die Kontrolle zu verlieren oder einfach einzuschlafen. Das war ihr nur einmal passiert und seitdem passte sie auf, dass sie die für sich selbst gesetzte Grenze nicht mehr überschritt.
Micha verabschiedete sich als Erster, aber nicht allzu lange Zeit später brachen Sven, Henry und Maye auch auf. Sven fragte, ob sie sich ein Taxi zurück teilen wollten, aber Henry lehnte ab und meinte, er wolle mit Maye die kurze Strecke zurück lieber spazieren gehen. So kurz war der Weg bis zu Mayes Wohnung zwar nicht und Henry selbst wohnte sogar noch etwas weiter außerhalb, aber die Aussicht auf eine nasse weiße Bluse schien ihn die Unbequemlichkeit anscheinend gern in Kauf nehmen zu lassen.
Tatsächlich hatte der Regen weiter nachgelassen, so dass es jetzt nur noch nieselte, und Henry nahm ihre Hand und sie schlenderten durch die nassen Straßen, auf denen sich das Nachtleben abspielte. Überall gab es blinkende und flackernde Neonreklame für die ganzen Kneipen, Bars und Diskotheken, die sich gegenseitig bei dem Zweck, zahlende Kundschaft anzulocken, zu übertrumpfen versuchten. Zwischendurch traf Henry noch einen Bekannten vor einer Disko, der zum Rauchen draußen stand, blieb kurz auf eine Zigarettenlänge stehen und unterhielt sich in der Zeit mit ihm, bevor dieser wieder in dem Gebäude verschwand. An den Typen, den er ihr als „Sugar” vorstellte, und das Gespräch selbst konnte Maye sich nicht kaum mehr erinnern; sie war mit den Gedanken bei den anderen Diskobesuchern und grübelte noch über ihren Wunsch nach, eventuell doch auch noch tanzen und nicht nach Haus zu gehen, als Henry sie unvermittelt hart packte und weiter schob. Erschrocken blickte sie ihn an.
„Hey, was is‘n los? Hast Du es plötzlich eilig?“
„Ja, Süße, ich hab’s eilig, mit Dir allein zu sein!“ antwortete er und sah sie mit einer Mischung aus Vorfreude und Ungeduld an. Irgendetwas lag in diesem Blick, was Maye bei Henry vorher noch nicht entdeckt hatte. Irgendetwas, was diesem Blick nicht nur Intensität sondern auch eine gewisse Härte verlieh. Unmittelbar zog sich etwas in ihr zusammen. Dieses Gefühl wiederum kannte sie – und teilte plötzlich seine Vorfreude.
Ein paar Straßen weiter drückte Henry sie plötzlich an eine Wand und küsste sie stürmisch. Nur zu gern ließ sie es geschehen und spürte seine Nähe, den Druck an ihrem Körper, an ihrem Becken, seine Erektion. Er roch nach Nikotin und schmeckte nach Bier, aber dennoch genoss sie seine Wildheit und seine Kraft, gab sich ihm hin und forderte ihn auf, die Dinge mit ihr zu tun, die sie beide gern taten und schon so oft miteinander getan hatten. Und obwohl es wirklich nicht das erste Mal war, dass er eine gewisse Dominanz zeigte, war es diesmal anders. Irgendetwas war anders, aber Maye verschob das Grübeln darüber auf einen späteren Zeitpunkt und ließ sich fallen. Wie sie in den Kellerraum gelangten, drang gar nicht mehr in ihr Bewusstsein.